Ich und Kaminski : Roman

Kehlmann, Daniel, 2003
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Medienart Buch
ISBN 978-3-518-41395-1
Verfasser Kehlmann, Daniel Wikipedia
Systematik DE - DE Erzählende Texte/Epik/Prosa
Schlagworte Belletristik, Biografie, Maler
Verlag Suhrkamp
Ort Berlin
Jahr 2003
Umfang 173 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Aufl.
Sprache Deutsch
Verfasserangabe Daniel Kehlmann
Annotation Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Franz Haas;
Kunst, Kritik und Blindenbrille / Daniel Kehlmanns pffifiger Roman "Ich und Kaminski"

Die Wege Gottes und der Literaturkritik sind unerforschlich: Ein junger Mann schreibt einen intelligenten Roman über einen weniger intelligenten jungen Mann, der mit windigen Mitteln eine Biographie über einen einst weltberühmten Maler schreiben will - und es wird (neben vielem Lob) in zwei exemplarischen Verrissen (FAZ und kolik) auf ihn eingedroschen zum Gotterbarmen. Der eine Rezensent wurde in seinem Gusto enttäuscht, er hatte "auf einen Schlüsselroman" gehofft, kann nun aber sein kunsthistorisches Rüstzeug gar nicht brauchen. Die andere Rezensentin verwechselt den Autor mit seiner Kunstfigur, einen widerlichen Jungjournalisten mit großen Ambitionen. Sie schimpft Kehlmann gar "ein altkluges Bürschchen", das meint, sich über die Welt "lustig machen zu müssen". Solche Großtaten des literaturkritischen Mißverstehens sind beinahe so amüsant wie der Roman selbst.
Daß Daniel Kehlmann noch keine dreißig Jahre alt ist, ist nicht seine Schuld, daß er bereits vier beachtliche Bücher publiziert hat, ist eher ein Verdienst. Der Roman "Ich und Kaminski" ist ein brillant konstruierter Schelmenroman, der an die Kolportage grenzt und leichthändig mit Knalleffekten spielt. Freilich ist er nicht von der ganz kanonischen Sorte: Dieser Schelm ist nämlich ziemlich unsympathisch, und am Ende des Romans ist er sogar der Geprellte. Er klopft schwer erträgliche Sprüche, eckt überall an und ätzt systematisch herum, kann aber auch mächtig schleimen, wenn er es für zielführend hält. Er ist eine Karikatur, jedoch eine mordslebendige. Ähnliche Charaktere soll es angeblich auch im wirklichen Leben geben, nicht nur in Schlüsselromanen, und mitunter sollen sie sogar altkluge Bürschchen sein.
Der Ich-Erzähler heißt Sebastian Zöllner und stänkert schon auf den ersten Seiten des Buches. Da ist der junge Kunstkritiker im Zug unterwegs zum Gebirgsdomizil des Malers Manuel Kaminski, dem letzten großen Alten der europäischen Kunst, über den er die "definitive Biographie" schreiben will. Kaminski, einst von Picasso geachtet und von Matisse gefördert, trägt seit Jahrzehnten eine dunkle Brille. Aufsehen erregte auf einer frühen Pop-Art-Ausstellung sein Bild mit der Unterschrift "Painted by a blind man". Nun hütet seine schöne Tochter den angeblich Blinden, und die Mächtigen der Kunstszene gehen immer noch in seinem Haus in den Bergen ein und aus. Auf diese Situation trifft der karrieregeile Jungkritiker. Nach 20 Seiten ist klar, daß es für den fiesen Biographen Zöllner nicht leicht sein wird - und daß der Autor Kehlmann mit einem außerordentlichen Sprachwitz schnell zur Sache kommt.
Auch wenn der berühmte Maler in manchem die Züge des alten Balthus trägt (samt der Legende um einen Mentor, der Rilke ähnlich ist), will dieser Roman keine Staffage zur Kunstgeschichte sein, auch keine verschlüsselte. Ebenso wenig ist es ein Thesenroman über die Kritik, auch wenn deren Realität mit Scharlatanerie mindestens so gesegnet ist wie die Kunst selbst. Daniel Kehlmann weiß das alles, versteht sich aber auf noch viel mehr: ein Dutzend Figuren in rasanter Folge zu skizzieren und das psychologische Match der zwei Hauptakteure zu inszenieren, der ekelhafte Zöllner gegen den gerissenen Kaminski.
Zöllner gelingt es, eine Haushälterin zu bestechen und den alten Kaminski auf eine abenteuerliche Reise mitzunehmen. Der Kunstkritiker hatte nämlich in Interviews mit Bekannten des Künstlers herausbekommen, daß Kaminskis Jugendliebe nicht tot ist, wie dieser glaubt. Nun machen sie sich auf den Weg zu dieser Frau, erleben unterwegs allerhand, unter anderem die menschliche Fauna bei einer Vernissage, wo Kaminski (natürlich mit Blindenbrille) als Kuriosum ehrfürchtig herumgereicht wird. Kehlmann ist dabei ein Meister in der knappen Darstellung von Peinlichkeiten aller Art, von Zynismus, Angeberei und reihenweisen Fettnäpfchen. Wie zum Beispiel die Begegnung von Zöllner mit einem bekannten Galeristen: "er sah mich an, als wären wir Freunde, ich lächelte, als ob ich es glaubte." Effizienter kann auf eineinhalb Zeilen über Machtspiele und Körpersprache kaum geschrieben werden.
Der Höhepunkt des Romans ist die rührende und zugleich peinliche Begegnung Kaminskis mit jener Therese, die ihm vor Jahrzehnten einen seltsamen Abschiedsbrief geschrieben hatte und spurlos verschwunden war. Aus ihr ist ein verhuschtes Weiblein geworden, das nun mit einem gräßlich netten Spießer zusammenlebt. Zöllner hatte sich die Szene des Wiedersehens als effektvollen Abschluß seiner Biographie vorgestellt, aber selbst einem Ekel wie ihm kommt das Würgen in so einer herzzerreißenden Lage. Das bringt sogar die beiden Männer einander näher, obwohl der Künstler seinen Biographen längst übers Ohr gehauen und wichtiges Material einem anderen Autor gegeben hat. - Das letzte Kapitel, knappe vier Seiten, deutet eine Versöhnung an, etwas zu zuversichtlich, einvernehmlich und milde, zu sinnbildlich. Das kann aber dem Roman insgesamt nicht mehr viel anhaben. Denn so viel war davor schon an Pfiffigem darin zu lesen, aufsässige und kluge Beobachtungen, immer scharf und bildlich.